[22. Das Zwischen-Sein des Eros zwischen dem Schönen und Häßlichen, zwischen dem Guten und Schlechten] Und so will ich dich denn jetzt lassen und eine Rede über den Eros, welche ich einst von einer Mantineerin namens Diotima gehört habe, welche hierin und auch sonst sehr weise war, auch den Athenern einst bei einem Opfer vor der Pest zehnjährigen Aufschub der Krankheit bewirkte, welche auch mich in Liebessachen unterrichtet hat, - die Rede also, welche diese gesprochen hat, will ich versuchen euch zu wiederholen, von dem ausgehend, worüber ich mit Agathon übereingekommen bin, sonst aber ganz für mich allein, so gut ich eben kann. Es gehört sich also, o Agathon, wie auch du erklärtest, zuerst ihn selbst zu beschreiben, den Eros, wer er ist und was für einer, und dann seine Werke. Es dünkt mich also am leichtesten, es so durchzunehmen, wie damals die Fremde, mich ausfragend, es durchging. Denn ungefähr dergleichen hatte auch ich zu ihr gesagt, wie Agathon jetzt zu mir, daß Eros ein großer Gott sei und von den Schönen. Sie aber widerlegte mich mit denselben Reden, womit ich jetzt diesen, daß er weder schön wäre nach meinen eigenen Reden, noch gut. Da sprach ich: Wie meinst du aber, Diotima, ist also Eros häßlich und schlecht? - Und sie: Willst du dich nicht des Frevels enthalten? Oder meinst du, was nicht schön ist, das sei notwendig häßlich? - Allerdings wohl. - Auch was nicht weise, das töricht? Oder hast du nicht gemerkt, daß es etwas mitteninne gibt zwischen Weisheit und Torheit? - Was wäre das? - Wenn man richtig vorstellt, ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu können, weißt du nicht, daß das weder Wissen ist- denn wie könnte etwas Grundloses eine Erkenntnis sein? - noch auch Unverstand, denn da sie doch das Wahre enthält, wie könnte sie Unverstand sein? Also ist offenbar die richtige Vorstellung so etwas zwischen Einsicht und Unverstand. - Richtig, sprach ich. - Folgere also nicht, was nicht schön ist, sei häßlich, noch was nicht gut sei, schlecht. Ebenso auch vom Eros, da du doch selbst eingestehst, er sei weder gut noch schön, glaube deshalb noch nicht, daß er häßlich und schlecht sein müsse, sondern etwas, sagte sie, zwischen beiden. - Aber das, sprach ich, wird doch von allen eingestanden, daß er ein großer Gott ist. - Von allen Nichtwissenden, sprach sie, meinst du, oder auch von den Wissenden? - Von allen insgesamt. - Da lachte sie und sagte: Und wie, Sokrates, könnte wohl von denen eingestanden werden, daß er ein großer Gott sei, welche behaupten, er sei überhaupt kein Gott? - Wer sind doch die? fragte ich. - Einer davon bist du, sagte sie, und eine ich. - Da sprach ich: Wie meinst du doch dies? - Und sie antwortete: Ganz natürlich. Denn sage mir nur, meinst du nicht, daß alle Götter glückselig und schön sind? Oder hättest du das Herz zu sagen, daß irgendein Gott nicht schön und glückselig sei? - Beim Zeus, ich gewiß nicht, sprach ich. - Und glückselig nennst du doch, die das Schöne und Gute besitzen? - Freilich. - Vom Eros aber hast du doch eingestanden, daß er aus Bedürfnis nach dem Schönen und Guten eben das begehre, dessen er bedürftig ist? - Das habe ich eingestanden. - Wie konnte also ein Gott sein, der unbegabt ist mit Schönem und Gutem? - Auf keine Weise, wie es scheint. - Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros für keinen Gott hältst? -

[23. Der Eros als großer Dämon zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen; seine Herkunft und sein philosophisches Wesen] Was wäre also, sprach ich, Eros? Etwa sterblich? - Keineswegs. - Aber was denn? - Wie oben, sagte sie, zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen. - Was also, o Diotima? - Ein großer Dämon, o Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen. - Und was für eine Verrichtung, sprach ich, hat es? - Zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt, der einen Gebete und Opfer und der andern Befehle und Vergeltung der Opfer. In der Mitte zwischen beiden ist es also die Ergänzung, so daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist. Und durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer, Weihungen und Besprechungen und alle Wahrsagung und Bezauberung. Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann, wer aber nur auf andere Dinge oder irgend auf Künste und Handarbeiten, der ist ein gemeiner. Solcher Dämonen oder Geister nun gibt es viele und von vielerlei Art, einer aber von ihnen ist auch Eros. - Wer aber, fragte ich, ist sein Vater und seine Mutter? - Weitläufiger, sprach sie, ist dies zwar zu erzählen; doch will ich es dir sagen. Als nämlich Aphrodite geboren war, schmausten die Götter, und unter den übrigen auch Poros, der Sohn der Metis. Als sie nun abgespeist, kam, um sich etwas zu erbetteln, da es doch festlich herging, auch Penia und stand an der Tür. Poros nun, berauscht vom Nektar, denn Wein gab es noch nicht, ging in den Garten des Zeus hinaus, und schwer und müde wie er war, schlief er ein. Penia nun, die ihrer Dürftigkeit wegen den Anschlag faßte, ein Kind mit Poros zu erzeugen, legte sich zu ihm und empfing den Eros. Deshalb ist auch Eros der Aphrodite Begleiter und Diener geworden, wegen seiner Empfängnis an ihrem Geburtsfest, und weil er von Natur ein Liebhaber des Schönen ist und Aphrodite schön ist. Als des Poros und der Penia Sohn aber befindet sich Eros in solcherlei Umständen: Zuerst ist er immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt, schläft vor den Türen und auf den Straßen im Freien und ist der Natur seiner Mutter gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tage blühend und gedeihend, wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch aber wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft, geht ihm immer wieder fort, so daß Eros nie weder arm ist noch reich und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht. Dies verhält sich nämlich so: Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden, sondern er ist es, noch auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser. Ebensowenig philosophieren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. - Wer also, sprach ich, Diotima, sind denn die Philosophierenden, wenn es weder die Weisen sind noch die Unverständigen? - Das muß ja schon, sagte sie, jedem Kinde deutlich sein, daß es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören wird. Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten und Eros ist Liebe zu dem Schönen; so daß Eros notwendig weisheitliebend ist und also als philosophisch zwischen den Weisen und Unverständigen mitteninne steht. Und auch davon ist seine Herkunft Ursache; denn er ist von einem weisen und wohlbegabten Vater, aber von einer unverständigen und dürftigen Mutter. Dies also, lieber Sokrates, ist die Natur dieses Dämons. Was du aber glaubtest, daß Eros sei, ist nicht zu verwundem. Du glaubtest nämlich, wie ich aus dem, was du sagst, vermuten muß, Eros sei das Geliebte, nicht das Liebende. Daher, meine ich, erschien dir Eros so wunderschön. Denn das Liebenswerte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, Seligzupreisende. Das Liebende aber hat ein anderes Wesen, so wie ich es beschrieben habe.

[24. Eros die Liebe zum Guten in jeder Gestalt, und sie erstrebt den ständigen Besitz des Guten] Darauf sagte ich: Wohl denn, Freundin, denn du hast wohl gesprochen. Wenn nun aber Eros ein solcher ist, welchen Nutzen gewährt er den Menschen? - Dies, o Sokrates, sprach sie, will ich nun hiemächst versuchen dich zu lehren. So beschaffen also und so entstanden ist Eros. Er geht aber auf das Schöne, wie du sagst. Wenn uns aber jemand fragte: Was hat denn Eros vom Schönen, o Sokrates und Diotima? Oder ich will es noch deutlicher so fragen: Wer das Schöne begehrt, was begehrt der? - Da sprach ich: Daß es ihm zuteil werde. - Aber, sagte sie, diese Antwort verlangt nach noch einer Frage, etwa dieser: Was geschieht denn jenem, dem das Schöne zuteil wird? - Da sagte ich, auf diese Frage hätte ich nicht sogleich eine Antwort bereit. - Aber, sprach sie, wenn nun jemand tauschend statt des Schönen das Gute setzte und fragte: Sprich, Sokrates, wer das Gute begehrt, was begehrt der? - Daß es ihm zuteil werde, sagte ich. - Und was geschieht jenem, dem das Gute zuteil wird? - Das kann ich schon leichter beantworten, sagte ich, er wird glückselig. - Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein. - Richtig gesprochen, sagte ich. - Dieser Wille nun und diese Liebe, glaubst du, daß sie allen Menschen gemein sind und daß alle immer das Gute haben wollen, oder wie meinst du? - So, sprach ich, daß dies allen gemein ist. - Warum aber, sprach sie, sagen wir nicht, daß alle lieben, wenn doch alle dasselbe lieben und immer, sondern sagen von einigen, daß sie lieben, von anderen aber nicht? - Das wundert mich selbst, sagte ich. - Laß es dich nur nicht wundern, sagte sie. Denn wir nehmen nur eine gewisse Art der Liebe heraus, die wir mit dem Namen des Ganzen belegen und Liebe nennen, für die anderen brauchen wir andere Namen. - Wie doch etwa? sprach ich. - So etwa, sagte sie. Du weißt doch, daß Dichtung etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste Dichtung zugrunde, und die Meister darin sind sämtlich Dichter. - Ganz richtig. - Aber doch weißt du schon, daß sie nicht Dichter genannt werden, sondern andere Benennungen haben, und von der gesamten Dichtung wird nur ein Teil ausgesondert, der es mit der Tonkunst und den Silbenmaßen zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen benannt. Denn dies allein wird Dichtung genannt, und die diesen Teil der Dichtung innehaben, Dichter. - Richtig gesprochen, sagte ich. - So auch, was die Liebe betrifft, ist im allgemeinen jedes Begehren des Guten und der Glückseligkeit die größte und heftigste Liebe für jeden. Allein die übrigen, die sich anderwärtshin damit wenden, entweder zum Gewerbe oder zu den Leibesübungen oder zur Erkenntnis, von denen sagen wir nicht, daß sie lieben und Liebhaber sind; sondern nur die auf eine gewisse Art ausgehen und sich der befleißigen, erhalten den Namen des Ganzen, Liebe und lieben und Liebhaber. - Das magst du wohl richtig erklären, sagte ich. - Und so geht zwar eine Rede, sagte sie, daß, die ihre Hälfte suchen, lieben. Meine Rede aber sagt, die Liebe gehe weder auf die Hälfte, Freund, noch auf das Ganze, wenn es nicht ein Gutes ist. Denn die Menschen lassen sich ja gern ihre eigenen Hände und Füße wegschneiden, wenn sie, obgleich ihr eigen, ihnen böse und gefährlich scheinen. Denn nicht an dem Seinigen hängt jeder, glaube ich, es müßte denn einer das Gute das Angehörige nennen und das Seinige, das Schlechte aber Fremdes. So daß es nichts gibt, was die Menschen lieben, als das Gute. Oder scheinen sie dir doch etwa? - Beim Zeus, mir nicht, sprach ich. - Können wir aber nun schon so schlechthin sagen, daß die Menschen das Gute lieben? - Ja, sagte ich. - Wie? Müssen wir nicht hinzusetzen, daß sie lieben, das Gute zu haben? - Das müssen wir hinzusetzen. - Und, sagte sie, nicht nur es zu haben, sondern auch es immer zu haben? - Auch das ist hinzuzusetzen. - So geht denn, alles zusammengenommen, die Liebe darauf, daß man selbst das Gute immer haben will. - Vollkommen richtig erklärt, sagte ich.

[25. Die Weise des Liebesvollzugs ist Zeugung im Schönen um der Unsterblichkeit willen] Wenn nun die Liebe immer dieses ist, sagte sie, auf welche Art und in welcher Handlungsweise gehen ihm nun diejenigen nach, deren Betrieb und Anstrengung man eigentlich Liebe zu nennen pflegt? Weißt du wohl zu sagen, was für ein Werk dieses ist? - Dann würde ich ja, sprach ich, dich, o Diotima, nicht so bewundern deiner Weisheit wegen und zu dir gehen, um eben dieses zu lernen. - So will ich es dir sagen, sprach sie. Es ist nämlich eine Geburt in dem Schönen, sowohl dem Leibe als der Seele nach. - Man muß weissagen können, sprach ich, um zu wissen, was du wohl meinst, und ich verstehe es nicht. - So will ich es dir denn deutlicher sagen. Alle Menschen nämlich, o Sokrates, sprach sie, sind fruchtbar sowohl dem Leibe als der Seele nach, und wenn sie zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Erzeugen aber kann sie in dem Häßlichen nicht, sondern nur in dem Schönen. Es ist aber dies eine göttliche Sache und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches, die Empfängnis und die Erzeugung. In dem Unangemessenen aber kann dieses unmöglich erfolgen; und unangemessen ist das Häßliche allem Göttlichen, das Schöne aber angemessen. Eine einführende und geburtshelfende Göttin also ist die Schönheit für die Erzeugung. Deshalb, wenn das Zeugungslustige dem Schönen naht, wird es beruhigt und von Freude durchströmt und erzeugt und befruchtet; wenn aber Häßlichem, so zieht es sich finster und traurig in sich zusammen und wendet sich ab und schrumpft ein und erzeugt nicht, sondern trägt mit Beschwerde seine Bürde weiter. Darum beeifert sich, wer von Zeugungsstoff und Lust erfüllt ist, so sehr um das Schöne, weil es ihn großer Wehen entledigt. Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, wie du meinst. - Sondern worauf denn? - Auf die Erzeugung und Geburt im Schönen. - Mag sein, sprach ich. - Ganz gewiß, sagte sie. - Warum aber auf die Erzeugung? - Weil eben die Erzeugung das Ewige ist und das Unsterbliche, wie es im Sterblichen sein kann. Nach der Unsterblichkeit aber zu streben mit dem Guten ist notwendig zufolge des schon Eingestandenen, wenn doch die Liebe darauf geht, das Gute immer zu haben. Notwendig also geht nach dieser Rede die Liebe auch auf die Unsterblichkeit.

[26. Ursache dieses Verlangens: Nur so hat das Sterbliche am Unsterblichen Anteil] Dies alles lehrte sie mich, als sie über die Liebe mit mir redete, und fragte mich auch einmal: Was meinst du wohl, o Sokrates, daß die Ursache dieser Liebe und dieses Verlangens sei? Oder merkst du nicht, in welchem gewaltsamen Zustande sich alle Tiere befinden, wenn sie begierig sind zu erzeugen, geflügelte und ungeflügelte, wie sie alle krank und verliebt erscheinen, zuerst wenn sie sich miteinander vermischen und dann auch bei der Auferziehung des Erzeugten, wie auch die schwächsten bereit sind, dieses gegen die stärksten zu verteidigen und dafür zu sterben; und wie sie sich selbst vom Hunger quälen lassen, um nur jenes zu ernähren, und so auch alles andere tun? Denn von den Menschen könnte man sagen, sie täten dies mit Überlegung; aber welches der Grund sein mag, warum auch die Tiere sich so verliebt zeigen, kannst du mir das sagen? - Und ich sagte wieder, ich wüßte es nicht. - Da sprach sie: Gedenkst du denn je etwas Großes zu leisten in Liebessachen, wenn du dies nicht einsiehst? - Aber eben deshalb, sprach ich, bin ich ja zu dir gekommen, o Diotima, wie ich auch schon sagte, weil ich weiß, daß ich Lehrer brauche. Sage mir also den Grund hiervon und von allem, was sonst in der Liebe vorkommt. - Wenn du also glaubst, sprach sie, daß die Liebe von Natur auf das gehe, worüber wir uns oft schon einverstanden haben, so wundere dich nur nicht. Denn ganz ebenso wie dort sucht auch hier die sterbliche Natur nach Vermögen immer zu sein und unsterblich. Sie vermag es aber nur auf diese Art, durch die Erzeugung, daß immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt. Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, daß es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, unerachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und Altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele, die Gewöhnungen, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht, hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht. Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen, teils vergehen, und wir nie dieselben sind in bezug auf die Erkenntnisse, sondern daß auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis, Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, daß sie dieselbe zu sein scheint. Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurückläßt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung, o Sokrates, sagte sie, hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige; das Unsterbliche aber durch eine andere. Wundere dich also nicht, wenn ein jedes von Natur seinen eignen Sprößling in Ehren hält. Denn der Unsterblichkeit wegen begleitet jeden dies Bestreben und diese Liebe.

[27. Die verschiedenen Bemühungen um Unsterblichkeit: Leibliche und geistige Zeugung] Über diese Rede nun, als ich sie gehört, war ich verwundert und sagte: Wohl, weiseste Diotima, verhält sich dies nun in der Tat so? - Und sie, wie die rechten Meister im Wissen pflegen, sprach: Dessen sei nur versichert, o Sokrates. Denn wenn du auch auf die Ehrliebe der Menschen sehen willst: so müßtest du dich ja über die Unvernunft wundem in dem, was ich schon angeführt, wenn du nicht bedenkst, einen wie gewaltigen Trieb sie haben, berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben. Und für diesen sind alle bereit, die größten Gefahren zu bestehen, noch mehr als für ihre Kinder, und ihr Vermögen aufzuwenden und jedwede Mühe unverdrossen zu übernehmen und dafür zu sterben. Denn meinst du wohl, sprach sie, Alkestis würde für den Admetos gestorben sein oder Achilleus dem Patroklos nachgestorben oder euer Kodros im voraus für die Königswürde seiner Kinder, wenn sie nicht geglaubt hätten, eine unsterbliche Erinnerung ihrer Tugend würde nach ihnen bleiben, die wir jetzt auch haben? Weit gefehlt, sagte sie, sondern nur für die Unsterblichkeit der Tugend und für einen solchen herrlichen Nachruhm, glaube ich, tun alle alles, und zwar je besser sie sind, um desto mehr, denn sie lieben das Unsterbliche. Die nun, fuhr sie fort, dem Leibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehr zu den Weibern und sind auf diese Art verliebt, indem sie durch Kindererzeugen Unsterblichkeit und Nachgedenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, für alle künftige Zeit sich verschaffen. Die aber der Seele nach, denn es gibt solche, sagte sie, die auch in der Seele Zeugungskraft haben, viel mehr als im Leibe, für das nämlich, was der Seele ziemt zu erzeugen und erzeugen zu wollen. Und was ziemt ihr denn? Weisheit und jede andere Tugend, deren Erzeuger auch alle Dichter sind und alle Künstler, denen man zuschreibt erfinderisch zu sein. Die größte aber und bei weitem schönste Weisheit, sagte sie, ist die, welche in der Staaten und des Hauswesens Anordnung sich zeigt, deren Name Besonnenheit ist und Gerechtigkeit. Wer nun diese als ein Göttlicher schon von Jugend an in seiner Seele trägt, der wird auch, wenn die Zeit herankommt, Lust haben zu befruchten und zu erzeugen. Daher geht auch, meine ich, ein solcher umher, das Schöne zu suchen, worin er erzeugen könne. Denn in dem Häßlichen wird er nie erzeugen. Daher erfreut er sich sowohl an schönen Leibern mehr als an häßlichen, weil er nämlich erzeugen will, als auch, wenn er eine schöne, edle und wohlgebildete Seele antrifft, erfreut er sich vorzüglich an beidem vereinigt und hat für einen solchen Menschen gleich eine Fülle von Reden über die Tugend und darüber, wie ein trefflicher Mann sein müsse und wonach streben; und gleich unternimmt er, ihn zu unterweisen. Nämlich indem er den Schönen berührt, meine ich, und mit ihm sich unterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugungslustig in sich trug, und indem er anwesend und abwesend seiner gedenkt, erzieht er auch mit jenem gemeinschaftlich das Erzeugte. So daß diese eine weit genauere Gemeinschaft miteinander haben als die eheliche und eine festere Freundschaft, wie sie auch schönere und unsterblichere Kinder gemeinschaftlich besitzen. Und jeder sollte lieber solche Kinder haben wollen als die menschlichen, wenn er auf Homeros sieht und Hesiodos und die anderen trefflichen Dichter, nicht ohne Neid, was für Geburten sie zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und Angedenken sichern, wie sie auch selbst unsterblich sind. Oder, wenn du willst, sagte sie, was für Kinder Lykurgos in Lakedaimon zurückgelassen hat, Retter von Lakedaimon und, um es geradeheraus zu sagen, von ganz Hellas. Geehrt ist bei euch auch SoIon, weil er Gesetze gezeugt, und viele andere anderwärts unter Hellenen und Barbaren, die viele und schöne Werke dargestellt haben und vielfältige Tugenden erzeugt, denen auch schon viele Heiligtümer sind errichtet worden um solcher Kinder willen, der menschlichen Kinder wegen aber nie jemandem.

[28. Der Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen] Soweit nun, o Sokrates, vermagst wohl auch du in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht zu werden; ob aber, wenn jemand die höchsten und heiligsten, auf welche sich auch jene beziehen, recht vortrüge, du es auch vermöchtest, weiß ich nicht. Indes, sprach sie, will ich sie vortragen und es an mir nirgend fehlen lassen. Versuche nur zu folgen, wenn du es vermagst. Wer nämlich auf die rechte Art diese Sache angreifen will, der muß in der Jugend damit anfangen, schönen Gestalten nachzugehen, und wird zuerst freilich, wenn er richtig beginnt, nur einen solchen lieben und diesen mit schönen Reden befruchten, hernach aber von selbst innewerden, daß die Schönheit in irgendeinem Leibe der in jedem andern verschwistert ist und es also, wenn er dem in der Idee Schönen nachgehen soll, großer Unverstand wäre, nicht die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe zu halten, und wenn er dessen innegeworden, sich als Liebhaber aller schönen Leiber darstellen und von der gewaltigen Heftigkeit für einen nachlassen, indem er dies für klein und geringfügig hält. Nächstdem aber muß er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den Leibern, so daß, wenn einer, dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen, damit er selbst so dahin gebracht werde, das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten anzuschauen, um auch von diesem zu sehen, daß es sich überall verwandt ist, und so die Schönheit des Leibes für etwas Geringeres zu halten. Von den Bestrebungen aber muß er weiter zu den Erkenntnissen gehen, damit er auch die Schönheit der Erkenntnisse schaue und, vielfältiges Schöne schon im Auge habend, nicht mehr dem bei einem einzelnen, indem er knechtischerweise die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung liebt, dienend sich schlecht und kleingeistig zeige, sondern auf die hohe See des Schönen sich begebend und dort umschauend, viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht. Hier aber, sprach sie, bemühe dich nur, aufzumerken, so sehr du kannst.

[29. Die Vollendung des Lebens in der Schau des Schönen selbst] Wer nämlich bis hierher in der Liebe erzogen ist, das mancherlei Schöne in solcher Ordnung und richtig schauend, der wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich ein von Natur wunderbar Schönes erblicken, nämlich jenes selbst, o Sokrates, um deswillen er alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat, welches zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht, weder wächst noch schwindet, ferner auch nicht etwa nur insofern schön, insofern aber häßlich ist, noch auch jetzt schön und dann nicht, noch in Vergleich hiermit schön, damit aber häßlich, noch auch hier schön, dort aber häßlich, als ob es nur für einige schön, für andere aber häßlich wäre. Noch auch wird ihm dieses Schöne unter einer Gestalt erscheinen, wie ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas, was der Leib an sich hat, noch wie eine Rede oder eine Erkenntnis, noch irgendwo an einem andern seiend, weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde, noch am Himmel; sondern an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend, alles andere Schöne aber an jenem auf irgendeine solche Weise Anteil habend, daß, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgendeinen Gewinn oder Schaden davon hat, noch ihm sonst etwas begegnet. Wenn also jemand vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem andern dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Und an dieser Stelle des Lebens, lieber Sokrates, sagte die Mantineische Fremde, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut, welches, wenn du es je erblickst, du nicht wirst vergleichen wollen mit köstlichem Gerät oder Schmuck oder mit schönen Knaben und Jünglingen, bei deren Anblick du jetzt entzückt bist und wohl gern, du wie viele andere, um nur den Liebling zu sehen und immer mit ihm vereinigt zu sein, wenn es möglich wäre, weder essen noch trinken möchtest, sondern nur anschauen und mit ihm verbunden sein. Was also, sprach sie, sollen wir erst glauben, wenn einer dazu gelangte, jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehen, das nicht voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrames, sondern das göttlich Schöne selbst in seiner Einartigkeit zu schauen? Meinst du wohl, daß das ein schlechtes Leben sei, wenn einer dorthin sieht und jenes erblickt und damit umgeht? Oder glaubst du nicht, daß dort allein ihm begegnen kann, indem er schaut, womit man das Schöne schauen muß, nicht Abbilder der Tugend zu erzeugen, weil er nämlich auch nicht ein Abbild berührt, sondern Wahres, weil er das Wahre berührt? Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiß auch ihm, unsterblich zu sein.

Solches, o Phaidros und ihr übrigen, sprach Diotima und habe ich ihr geglaubt, und wie ich es glaube, suche ich es auch andern glaublich zu machen, daß, um zu diesem Besitz zu gelangen, nicht leicht jemand der menschlichen Natur einen besseren Helfer finden könnte als den Eros. Darum auch, behaupte ich, sollte jedermann den Eros ehren und ehre ich auch selbst alles, was zur Liebe gehört, und übe mich darin ganz vorzüglich und ermuntere auch andere dazu und preise jetzt und immer die Macht und Tapferkeit des Eros, so sehr ich nur vermag. Willst du nun, o Phaidros, so nimm diese Rede dafür an, daß ich sie als eine Lobrede auf den Eros gesprochen; wo nicht, so nenne sie, wie und wonach du sie nennen willst.